Heilig Abend Geschichte

Die Erzählung

von Rolf Probala aus seinem Buch

„Aus heiterem Himmel – 16 Variationen der Weihnachtsgeschichte“

Jedes Jahr im Dezember steht der Evangelist vor der großen Herausforderung, der Welt die Weihnachtsgeschichte neu zu erzählen. Gott hat ihn einst mit dieser Aufgabe betraut und der Evangelist erfüllt den Auftrag pflichtbewusst Jahr für Jahr. Doch inzwischen ist er der Geschichte etwas überdrüssig und es mangelt ihm zusehends an kreativen Einfällen, die es für eine zeitgemäße Weihnachtsgeschichte nun mal braucht. Daher entschließt er sich eine Denkpause einzulegen und für einmal einen professionellen Storyteller mit dem Erzählen der Weihnachtsgeschichte zu beauftragen.

Im November kontaktiert er eine bekannte Kommunikationsagentur, die sich mit Narrativen für Unternehmen einen Namen gemacht hat. Er trifft das Creative Team zu einem Briefing, bei dem man sich auf Botschaft, Plot und Form einigt: Zu verfassen sei eine kurze Geschichte zu Weihnachten, die von der Geburt Jesu handle, Josef, Maria, Hirten, Könige und Engel einschließe und als zentrale Botschaft die Erlösung der Welt vermittle. Die Geschichte soll Emotionen auslösen und Menschen aller Kulturen ansprechen. Als Abgabetermin wird der 24. Dezember 16 Uhr vereinbart.

Zwei Wochen nach dem Briefing gewinnt die Kommunikationsagentur den Pitch für einen lukrativen Auftrag aus dem Mittleren Osten. Für die Entwicklung der Weihnachtsgeschichte fehlen ihr nun die personellen Ressourcen und der Creative Director lagert den finanziell ohnehin bescheidenen Auftrag an eine kleine Werbeagentur seines Netzwerks aus. Man trifft sich zu einem Briefing und formuliert die Aufgabe: Zu verfassen sei eine kurze emotionale Weihnachtsstory rund um die Geburt Jesu, die das gesamte Weihnachtspersonal einschließe und als zentrale Botschaft die Erlösung der Welt vermittle.

Kurz darauf erhält die kleine Werbeagentur einen seit Langem erwarteten Auftrag für eine große Kampagne. Für die Weihnachtsgeschichte bleibt ihr keine Zeit, aber den Auftrag zurück geben will die Agentur nicht, da sie sich vertraglich verpflichtet hat, ihn auszuführen. Sie kontaktiert daher einen freischaffenden Texter, einen ehemaligen Journalisten, mit dem sie sporadisch zusammenarbeitet. Schon am nächsten Tag trifft man sich zum Briefing und hält fest, was zu liefern ist: Zu schreiben sei eine emotionsgeladene Weihnachtsstory von Jesus und seinem Personal, die als Botschaft die Erlösung der Welt enthalte.

Drei Tage später erkrankt der Texter und fällt für mindestens 3 Wochen aus. Den Auftrag zurück geben will er nicht – man möchte sich als Freischaffender ja nicht künftige Aufträge verscherzen. Er ruft eine alte Bekannte an, eine ehemalige Pfarrerin, die jetzt als Kommunikationsberaterin arbeitet. Das Briefing erfolgt telefonisch: Zu erfinden sei eine knackige Weihnachtsstory irgendwie zu Jesus und seinem Personal. Als Kernbotschaft enthalte sie die Lösung für die Welt.

Die in theologischen Fragen versierte Kommunikationsfachfrau verfasst zwar eine Konzeptskizze, hat aber keine Lust, diese umzusetzen. Mit Weihnachten hat sie schon längst abgeschlossen. Sie kontaktiert einen alten Freund aus Studientagen, der inzwischen als selbstständiger Strategieberater für Unternehmen tätig ist. Er prüft das Projekt auf dessen strategische Relevanz und reicht es an eine Branding Agentur weiter, in deren Verwaltungsrat er sitzt. Sein kurzes Briefing übermittelt er via WhatsApp: Zu formulieren ist eine personalisierte Weihnachtsbotschaft für die ganze Welt.

Am 24. Dezember um 15:59 Uhr hat der Evangelist die Weihnachtsgeschichte auf seinem Smartphone. Sie ist kurz, leicht lesbar, multikulturell, verständlich, inkludierend, genderneutral und perfekt kommunizierbar über soziale Medien: „Why me? Why you? Why-Nacht for all of you!“

Wozu denn noch lange Geschichten erzählen?